Liebe Mitbürger,
„First Things First“, wie die Angelsachsen sagen oder zu deutsch: das Wichtigste zuerst. Was ist das Wichtigste, was ist das Erste? Juden und Christen geben darauf die Antwort: Nicht DAS Wichtigste oder DAS Erste, sondern DER Wichtigste, DER Erste – Gott. Gott, der Schöpfer, der Ursprung von allem ist nicht ein abstraktes Prinzip sondern ein konkretes Wesen. Er tritt seinem Volk und jedem Einzelnen als Du gegenüber.
Alles, was außer Gott existiert, so die jüdisch-christliche Lehre, ist von ihm geschaffen. Alles außer Gott ist unser Mit-Geschöpf. Und wir dürfen uns selbst und diese Mit-Geschöpfe nicht an die Stelle Gottes setzen, das ist die Aussage des Ersten Gebots. Wir dürfen vom Geschöpflichen nicht das erwarten, was wir von Gott erwarten können und dürfen.
Die Zehn Gebote sind mit dem Satz überschrieben: „Ich bin der HERR, dein Gott, der dich aus dem Land Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus.“ (Exodus 20,2. Deuteronomium 5,6) Es ist wichtig, dies nicht zu vergessen. Die Anforderungen Gottes an uns gründen auf Erlösung. Gott ist kein Willkürherrscher, der Vorschriften erlässt, um die Menschen zu schikanieren, sondern ein Liebender, der das Beste für die Seinen will. Die Zehn Gebote sind gewissermaßen der Schutzwall, der verhindert, dass wir wieder in die alte Sklaverei der Sünde zurückfallen.
Die Bibel stellt die Übergabe der Zehn Gebote als Bundesschluss dar. Gott geht mit seinem Volk einen Bund ein und das Volk stimmt diesem Bund zu. Im Gegensatz zu den anderen Geschöpfen der sichtbaren Welt sind die Menschen nicht nur Naturgesetzen und Instinkten unterworfen sondern als Gottes Ebenbilder mit Freiheit beschenkt. Der Mensch kann sich frei für oder gegen den Bund entscheiden.
Fragen wir nun, was ein „Bund“ im biblischen Verständnis überhaupt ist. Im alten Orient hat jeder Bund eine ganz bestimmte, immer wiederkehrende Struktur. Es geht dabei um fünf Punkte. 1. Wer ist der Chef, von wem geht der Bund aus? 2. Mit wem wird der Bund geschlossen? Wer sind die Repräsentanten? 3. Die Regeln des Bundes. Was habe ich zu tun? 4. Sanktionen. Was erwartet mich, wenn ich die Regeln beachte bzw. missachte? 5. Wie geht es weiter? Wo wird der Bund aufbewahrt, gibt es eine Zukunft?
In den Zehn Geboten finden wir diese Struktur ebenfalls und zwar zwei mal. Den ersten Punkt behandelt das Erste Gebot: Wer ist der Chef, von wem geht der Bund aus? Die Antwort haben wir oben gegeben: Gott, der Allmächtige, der Schöpfer des Himmels und der Erde. Und an der Spitze der Gebote steht die Vorschrift, den Chef als Chef anzuerkennen, keine anderen Chefs neben ihm zu dulden.
Es geht in diesem Ersten Gebot um die Souveränität Gottes, um seine Transzendenz. Er ist uns fern und dennoch ganz nah, weil er in seiner Vorsehung alles lenkt, plant und bewirkt. Damit sind wir Menschen einerseits in die Schranken verwiesen, doch ist dies für uns auch ein großer Trost. Wir müssen gar nicht alles machen, wir müssen uns nicht selbst erlösen; ER hält alles in seiner Hand und diese Hand ist die eines liebenden Vaters.
Nun werden manche – vielleicht empört – einwenden: Das alles mag ja für Menschen, welche sich zu dieser Religion bekennen, richtig und wichtig sein, aber was taugt das als Maßgabe für das Europa des 21. Jahrhunderts? Ist es nicht eine Zumutung für Menschen, die nicht glauben oder anderen Religionen angehören? Wird hier der Versuch unternommen, eine Theokratie aufzurichten, eine Art Gottesstaat auf Erden, in welchem Andersgläubige bestenfalls Bürger zweiter Klasse sind und schlimmstenfalls Verfolgungen ausgesetzt werden? Sollten Politik und Religion nicht strikt auseinandergehalten werden, zumal im Namen der Religion und oft durch die Verbindung von Macht und Religion im Laufe der Geschichte schon viel Unheil geschehen ist? Muss sich der Mensch nicht vielmehr sogar frei machen von jeglicher religiöser Vorstellung?
Keineswegs! Nichts liegt mir ferner, als meinen Mitmenschen irgend eine religiöse Vorstellung aufzunötigen. Die Bedeutung des Ersten Gebotes für die Politik liegt im oben gesagten Verhältnis von Geschöpflichkeit und Schöpfer. Und ich meine, dass auch viele Menschen, welche nicht an Gott im jüdisch-christlichen Sinne glauben, dem zustimmen können.
Denn das Erste Gebot sagt, man dürfe nichts Geschöpfliches vergöttern. Weder von uns selbst noch von unseren Mitgeschöpfen können wir Erlösung verlangen. Alles Politische ist vorläufig, fehlerbehaftet und vergänglich. Wir können und sollen in der Politik die Zustände, die wir vorfinden verbessern. Aber wir werden damit niemals ein Paradies auf Erden erschaffen.
Alle derartigen Versuche sind blutig gescheitert. Den Auftakt machte die Französische Revolution mit ihrer Vergötterung der menschlichen Vernunft und Zehntausenden von Todesopfern. Rund hundert Jahre später sorgte der Kommunismus mit seiner Vergötterung der Geschichte und der Verheißung eines paradiesischen klassenlosen Endzustandes für zig Millionen von Opfern. Ebenso der Nationalsozialismus mit seiner Vergötterung der Rasse und dem Wahn, man könne die Menschheit hochzüchten und müsse „Minderwertige“ auslöschen. In der Gegenwart erleben wir neben einem Nihilismus, der alles Große und Schöne in den Dreck ziehen will und den Menschen selbst als Feind der Natur sieht, die irrige Hoffnung, in der Verschmelzung von Mensch und Technologie eine neue Art Erlösung zu finden.
Wer sich dagegen als Politiker an das Erste Gebot hält, dem Schöpfer nichts Geschöpfliches gleichstellt und sich von der Versuchung frei macht, seine Mitmenschen zum Glück zwingen und durch welche Maßnahmen auch immer erlösen zu müssen, der wird paradoxerweise viel mehr und viel Besseres bewirken können. Er wird seine Um- und Mitwelt verbessern, eben weil er sie nicht perfektionieren will. Er wird vor allen Dingen seinen Mitmenschen – auch den Nicht- und Andersgläubigen – ihre Freiheit lassen. Denn er ist sich der Grenzen seines eigenen Tuns stets bewusst.
Er weiß auch, dass alle irdischen Reiche nur temporär sind und nur Gottes Reich selbst – das Reich das nicht von dieser Welt ist (Johannesevangelium 18,36) – ein ewiges Reich ist (vgl. Daniel 2,44). Dies ist gerade auch für alle tröstlich, die beispielsweise an der real existierenden EU verzweifeln. Sie wissen, dass Gott „Könige absetzt und Könige einsetzt“ (Daniel 2,21), dass auch die EU nicht von Dauer sein und irgendwann fallen wird.
Wer das Erste – DEN Ersten – wirklich an die erste Stelle setzt, wird umgekehrt auch nicht verzweifeln, wenn gute und sinnvolle irdische Strukturen vergehen. Er wird sein Herz nicht an Irdisches – und sei es noch so positiv – hängen und den Verlust leichter verschmerzen. Denn er weiß, dass das auch vergänglich und „Windhauch“ (vgl. Prediger 1,2) ist. Und so schenkt uns das Erste Gebot genau die Freiheit, die Gott für uns will.
Diese Freiheit wünsche ich Ihnen allen.
Herzliche Grüße
Ihr
Joachim Kuhs