Liebe Mitbürger,
Heute ist der 27. Januar, der Internationalen Gedenktag für die Opfer des Holocaust. Im EU-Parlament hat heute Frau Margot Friedländer eine ergreifende Rede gehalten. Frau Friedländer ist Überlebende der nationalsozialistischen Judenverfolgung, im November durfte sie ihren hundertsten Geburtstag feiern.
Die Familie von Margot Bendheim, wie ihr Mädchenname lautet, versuchte mehrmals zu emigrieren. Es sollte nie klappen. 1938, als noch Zeit gewesen wäre, verweigerten die USA die Aufnahme. Die geplante Flucht Anfang 1943 scheiterte, ihr Bruder Ralph und ihre Mutter wurden im KZ Auschwitz ermordet, der getrennt lebende Vater war bereits ein Jahr zuvor ermordet worden.
Margot Bendheim konnte im letzten Moment untertauchen. Sie lebte fortan 15 Monate lang in wechselnden Verstecken bei 16 verschiedenen Familien. Tägliche Todesangst wechselte mit der Erfahrung von Menschlichkeit, Großzügigkeit und Opferbereitschaft – schließlich riskierten ihre Helfer selbst das Leben.
Im Frühjahr 1944 wurde sie enttarnt, verhaftet und ins KZ Theresienstadt deportiert, das sie wie durch ein Wunder überlebte. Kurz nach der Befreiung heiratete sie Adolf Friedländer, den sie Jahre zuvor im jüdischen Kulturbund kennengelernt hatte. Das Paar emigrierte in die USA. Im Jahr 2003 kehrte sie erstmals wieder nach Deutschland zurück. Seit knapp zwölf Jahren lebt sie dauerhaft in Berlin.
Frau Friedländer hat abgrundtiefen Hass erlebt. Sie hat aber auch Großzügigkeit und Menschlichkeit erfahren. Der große Teil ihrer Glaubensgeschwister hatte nicht dieses Glück. 6 Millionen überlebten den Rassenwahn der Nazis nicht.
Liebe Freunde, wer mich kennt, weiß, wie viel mir unsere jüdischen Mitbürger, die Menschen jüdischen Glaubens auf der ganzen Welt und auch der Staat Israel bedeuten. Der Schmerz und die Trauer, die diesen Gedenktag prägen, sind für mich nichts Gekünsteltes. Und mit aufrichtiger Freude begleite ich das Wiederaufblühen jüdischen Lebens in Israel, aber auch in Deutschland, das gerade nach dem Untergang der Sowjetunion enormen Aufschwung erfahren hat.
„Nie Wieder“, darin sind sich an diesem Gedenktag alle einig. Aber dieses „Nie Wieder“ ist keine Selbstverständlichkeit. Es braucht Wurzeln, geistige Wurzeln, charakterliche Wurzeln. Die Gegner des Nationalsozialismus, von denen einige, wie die stillen Helfer Margot Friedländers, ihr Leben riskiert und manche ihr Leben verloren haben, hatten solche Wurzeln. Viele zogen ihre Kraft aus der Erziehung in Elternhaus und Schule, aus der Jugendbewegung, der Liebe zur Heimat und zum Vaterland, aus dem kulturellen Erbe an Musik, Literatur und Geschichtsbewusstsein. Und sehr viele auch und vor allem aus einem lebendigen, gelebten Glauben.
Wenn uns das „Nie Wieder“ ernst ist, dann dürfen wir diese Wurzeln nicht verachten und ausreißen. Im Gegenteil, wir müssen sie pflegen und – wo nötig – wieder neu einpflanzen.
Daran zu arbeiten, betrachte ich als eine meiner wichtigsten Aufgaben.
Ich grüße Sie aus Brüssel,
Ihr
Joachim Kuhs