Europa am Kipppunkt

China und die Neuordnung globaler Geopolitik – Europas strategische Positionierung in Eurasien

Studie von Dr. Rainer Rothfuß für die ID-Fraktion im EU-Parlament

Zusammenfassung

von Dr. Rainer Rothfuß

Europas Aufstieg zu einer Region des Friedens und des Wohlstands

wohlstand – Joachim Kuhs, AfD / Alternative für Deutschland

Europas Aufstieg zu einer Region des Friedens und des Wohlstands ist keine Errungenschaft, die isoliert von den Nachbarn und Partnern in der Welt erzielt werden konnte. Entscheidend ist die Art und Weise, wie Chancen und Gefahren in den Verbindungen Europas mit seinen Nachbarn und der Welt genutzt bzw. abgewehrt werden konnten. Bis 2020 schien die Entwicklung Europas – trotz großer Herausforderungen wie der Migrationskrise seit 2015 – auf einem noch kontrollierbar scheinenden Entwicklungspfad zu verlaufen zwischen eurasischer Integration und transatlantischer Partnerschaft zur führenden Weltmacht USA.

Eine gefährliche Unwucht kam ins globale System 2020 mit einer fehlgeleiteten Lockdown-Politik zulasten von Wirtschaft und Gesellschaft.

Doch Anfang 2022 scheint mit der Eskalation des Ukraine-Kriegs in einen weltweiten „Stellvertreterkrieg“ (Uhle-Wettler 2022, S. 72) Europa an einen Kipppunkt gelangt zu sein: Die unsere Wirtschaft stützenden Verbindungen zum rohstoffreichen Russland wurden unwiederbringlich gekappt, symbolisch markiert durch die Sprengung der Nord Stream-Pipelines. Russland wandte sich noch intensiver seinen eurasischen Partnern China und Indien zu, die gemeinsam über ein Drittel der Weltbevölkerung und das neue bzw. zukünftige industrielle Zentrum der Welt ausmachen.

Das US-Ziel die eurasische Integration entlang der Achse Deutschland-Russland zu stoppen, scheint erreicht zu sein. Diesem Anliegen galt laut George Friedman (2015)1, dem Gründer und ehemaligen Leiter des einflussreichen privaten US-Nachrichtendienstes STRATFOR stets das „Hauptinteresse der US-Außenpolitik während des letzten Jahrhunderts – im Ersten und im Zweiten Weltkrieg und im Kalten Krieg“. Denn „[v]ereint sind [Deutschland und Russland] die einzige Macht, die [Amerika] bedrohen kann. […]

Die Urangst der USA ist, dass deutsches Kapital und deutsche Technologien sich mit russischen Rohstoffen und russischer Arbeitskraft verbinden.

Eine einzigartige Kombination, vor der die USA seit Jahrhunderten eine Höllenangst haben. […] Wer mir nun sagen kann, was die Deutschen tun werden, der kann mir auch sagen wie die Geschichte der nächsten 20 Jahre aussehen wird. Aber leider haben sich die Deutschen noch nicht entschieden.“ Die Deutschen haben sich nun entschieden, wenn auch unter einseitiger „Nachhilfe“ im Rahmen eines gezielt politisch-medial verengt gehaltenen Diskurskorridors, flankiert durch die EU-Zensur russischer Medien. Verbal gepeitscht wurde contra Dialog und pro endlose Waffenlieferungen für einen Weltstellvertreterkrieg zulasten Europas, Russlands und vor allem der Ukraine als favorisiertes Rezept der „Konfliktlösung“.

Herauslösung Europas aus dem eurasischen Integrationsprozess und seine Schwächung zugunsten der USA

usa – Joachim Kuhs, AfD / Alternative für Deutschland

Doch letztlich wurde nur eines der Anliegen des geopolitischen Wettbewerbers auf der anderen Seite des Atlantik erreicht: Die Herauslösung Europas aus dem eurasischen Integrationsprozess und seine Schwächung zugunsten der USA als hegemonialer Führungsmacht im Abstiegskampf gegen den aufstrebenden geopolitischen Rivalen China, der angibt eine neue, eine multipolare statt der US-geführ-ten monopolaren Weltordnung, gestalten zu wollen. Die mit dem Kappen der Russlandverbindungen verschlechterten Wettbewerbsbedingungen für die Industrie im rohstoff- und energieressourcen-armen Europa einerseits und das von den USA aufgelegte, als mächtiger Investitionsstaubsauger konzipierte Mega-Subventionsprogramm „Inflation Reduction Act“ auf der anderen Seite, haben das Potenzial, den kaum revidierbaren Niedergang des europäischen Wohlstandsraums einzuleiten.

Das Stoppen der eurasischen Integration

Das andere geopolitische Anliegen hat die scheidende Weltmacht USA (noch) nicht erreicht: Das Stoppen der eurasischen Integration. Ohne Europa als maßgeblichen Mitgestalter verschiebt sich der Entwicklungs- und Integrationsfokus Eurasiens 10.000 Kilometer nach Osten. Russland hatte die abwehrende Haltung des Westens gegenüber seinen europäischen Partnerschaftsambitionen der frühen 2000er-Jahre spätestens 2014 mit dem US-gesteuerten „F*** the EU“-Regime Change2 in der Ukraine hingenommen. Zwecks Erweiterung seiner Handlungsoptionen trieb das eurasische Brückenland seinen Ausbau der infrastrukturellen und politischen Verbindungen mit dem übrigen Eurasien und anderen Teilen der Welt erfolgreich voran.

Symbolisch hierfür stehen die massiv erhöhten russischen Energieexporte nach China und Indien sowie infrastrukturell die Planung einer Hochgeschwindigkeitszugverbindung von Moskau nach Beijing mit einer von sechs Tagen auf 30 Stunden verkürzten Reisezeit.

Dass die eurasische Integration und die Ausgestaltung einer multipolaren Weltordnung ohne Europas Zutun und Wohlwollen zum Scheitern verurteilt sei, wäre eine gefährliche Fehlein-schätzung. Russland befindet sich im Rahmen von BRICS und Chinas SCO in einem Club dynamisch aufstrebender Regional- und Weltmächte, die vor allem aus klugem Selbstschutz und diplomatisch-em Kalkül noch keine so offene Konfrontation mit dem Westen gesucht haben wie Russland.

China: vom Entwicklungsland zur Weltwirtschaftsmacht

china – Joachim Kuhs, AfD / Alternative für Deutschland

China hat sich in den vergangenen 40 Jahren vom Entwicklungsland zur nach Kaufkraftparität größten Wirtschaftsmacht der Welt aufgeschwungen. Dabei bewies das staatskapitalistisch-kommunistische System Chinas weit mehr Flexibilität als seine Partner wie etwa Deutschland, das 2017 noch 630 Millionen Euro (vgl. Focus Online, 24.08.2021) an Entwicklungshilfegeldern und 2020 immerhin noch 475 Millionen (vgl. Welt, 22.06.2022) finanzierte, wenngleich diese heute vermehrt in beidseitige Anliegen der internationalen Kooperation als in klassische Projekte der Entwicklungszusammenarbeit fließen. Chinas Aufstieg ist breit angelegt. Er umfasst Schritte, die die Übernahme der weltweiten technologischen Führerschaft in sensiblen Bereichen wie

  • Raumfahrt,
  • Künstlicher Intelligenz,
  • Gentechnologie und
  • Militär anbahnt.

Er stützt sich auf politische Kooperationsforen wie UNO, BRICS und SCO, die Chinas Kapazitäten zum Aufbau neuer Gestaltungsinstrumente für eine multipolare Weltordnung unter Umgehung bisheriger, westlich kontrollierter Machtinstrumente wie IWF, SWIFT und US-Dollar stärken. Der Aufstieg zur führenden Weltmacht materialisiert sich zudem im Billionen-schweren Infrastrukturprojekt der „Neuen Seidenstraße“, die mit 147 Partnerstaaten die Dimension eines historisch einmaligen Welt-Raumordnungs- und Entwicklungsvorhabens angenommen hat.

Kritikpunkte China: Totale digitale Kontrolle und Demokratie?

covid – Joachim Kuhs, AfD / Alternative für Deutschland

Sich unkritisch und undifferenziert allein den Machtverhältnissen zu fügen wäre jedoch für Europa kein guter Rat für die Auswahl und Ausgestaltung aktueller wie zukünftiger Partnerschaften, weder über den Atlantik nach Westen, noch quer durch Eurasien nach Osten. Ein kritischer Blick auf den Umgang der Volksrepublik China mit nationalen Herausforderungen wie die in dieser Studie untersuchte, rasch wachsende christliche Minderheit von rund 100 Millionen Mitgliedern, auf die Situation der von uigurischem Separatismus, Extremismus und Terrorismus bedrohten Autonomen Region Xinjiang bei harschem Intervenieren des chinesischen Staates sowie auf die ungelöste, hochexplosive Taiwan-Frage, offenbart Risiken in Verbindung mit dem Aufstieg Chinas zu einer Weltordnungsmacht.

Ein weiterer kritischer Aspekt für zukünftige Perspektiven einer vertieften Zusammenarbeit ist aus der Warte pro freiheitliche, demokratische und souveräne Nationalstaaten das Aufkommen eines übermächtigen digitalen Überwachungs- und Steuerungsapparats in China, dessen Reichweite sich über ein weltweites Netzwerk extraterritorialer Polizeidienststellen in über 30 Staaten fortsetzt (Safeguard Defenders 2022b).

Essentielle Fragen der Demokratie:

  • Würden sich globale, europäische und chinesische Ansätze zur Durchsetzung einer totalen digitalen Kontrolle des Menschen in all seinen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und privaten Aktivitätssphären zu einem undurchdringbaren Netz der Freiheitsberaubung verbinden?
  • Wäre mittels
    • (in China am 12.12.2022 abgeschaffter) Covid-Tracking-App,
    • mit digitalem EU- und künftig globalem Impfausweis,
    • mit Bargeldabschaffung zugunsten gläserner Zentralbank-Digitalwährungen,
    • mit Sozialkredit-Systemen,
    • mit digitalen IDs, verknüpft mit Zahlungsfunktion und Impfstatus (ID2020)
  • die Freiheit des Individuums endgültig bedroht und in die Hände kontrollsüchtiger Staatsapparate und Konzerne gelegt?

Dies sind essenzielle Fragen der Demokratie.

Europa steht am Kipppunkt!

Europa steht am Kipppunkt und vor einer dringlichen Kurskorrektur. Die asymmetrische transatlantische Partnerschaft und die in diesem Kontext provozierte Ost-West-Spaltung sowie die Süd-Nord-Massenmigration nach Europa bedrohen unsere Zukunftsperspektiven in einer hochkompetitiven Welt.

Wir Europäer sollten die Wahrung der Freiheit des Individuums als Grundvoraussetzung für eine Partnerschaft mit China im eurasischen Kontext als unverhandelbar sicherstellen und unsere eigenen legitimen Interessen zur Behauptung in einer multipolaren Welt formulieren:

  • Wahrung des Friedens in Europa

  • Zugang zu kostengünstiger Energie

  • Sicherung europäischer Arbeitsplätze

  • Schutz geistigen Eigentums

  • Ausbau und Sicherung der Transportwege und Marktzugänge

  • Gleichberechtigung in der Mitgestaltung einer multipolaren Weltordnung

  • Schutz und Wiederbelebung christlich-europäischer kultureller Grundlagen

  • Stopp irregulärer Massenzuwanderung

  • Allianzen für beidseitig wirtschaftlich erfolgreiche Remigration

  • Aufbau einer langfristig verlässlichen, ausbalancierten Sicherheitspartnerschaft für Eurasien unter Einbeziehung der nördlichen Hemisphäre insgesamt

Emanzipierung des „Juniorpartners“ Europa

Grundvoraussetzung für die Wahrung dieser legitimen europäischen Interessen im Rahmen einer ausgeglicheneren Weltordnung ist die Emanzipierung des „Juniorpartners“ Europa aus einer transatlantischen Umklammerung, die mit dem Ende des Kalten Krieges und der mehrfachen US-geführten Destabilisierung der europäischen Nachbarschaft im Süden und Osten ihre Daseinsberech-tigung verloren hatte.

Nicht eine bisherige Abhängigkeit von Russland oder eine mögliche von China ist per se das Problem, sondern das Unterlassen eines offenen und auf Ausgleich bedachten Dialogs – ohne einseitige Verurteilung im Zuge völkerrechtlicher „Doppelmoral“ (Ambos 2022). Auch starke länderspezifische Außenabhängigkeiten sind in einer globalisierten Welt nicht unüblich. Sie bedürfen lediglich eines verantwortungsvollen, vertrauenswürdigen und vorausschauenden Managements.

Emanzipiertes Europa: Zeit für eine Friedenskonferenz!

Ein von den einseitigen geopolitischen Interessen der USA emanzipiertes Europa sollte umgehend eine eurasische Friedenskonferenz initiieren und alle Waffenlieferungen in die Ukraine einstellen. Ein akzeptabler Ausgleich im fahrlässig in Kauf genommenen Ost-West-Konflikt sollte ausgehandelt und dauerhaft und transparent durch OSZE und OVKS (Bordjuscha 2010, S. 384) überwacht werden.

Ein Europa mit erweiterter Handlungsautonomie sollte sich für eine gesamteuropäische Sicherheitsarchitektur auf der Grundlage des ausgleichenden Grundsatzes der unteilbaren Sicherheit einsetzen. Nur so kann der Weg für eine fortgesetzte eurasische Integration unter Einbeziehung der zur Spaltung Europas instrumentalisierten Nationen Mittel- und Osteuropas als Mitgewinner der friedlichen Koexistenz und gemeinsamen Entwicklung wieder geöffnet werden.

EU-Parlament und China

Das vom EU-Parlament gestoppte Investitionsschutzabkommen mit China sollte auf der neuen Verständigungsgrundlage umgehend ratifiziert werden. Im Rahmen einer Seidenstraßenpartnerschaft sollten die europäische Global Gateway- und die chinesischen Belt and Road-Initiative in syn-ergetischer Ergänzung statt in konflikt- und kostentreibender Konkurrenz zueinander durchgeführt werden. Essenziell für die Stabilisierung der erzielten eurasischen Kooperationserfolge ist die Vermittlung zwischen China und Taiwan für einen friedlichen Prozess der Wiedervereinigung zur Entschärfung eines punktuellen Konflikts mit dem Potenzial zur Auslösung einer verheerenden Weltkrise.

Europa – China: Eine Partnerschaft, zwei (transformierte) Systeme

Im Sinne des Mottos „Europa – China: Eine Partnerschaft, zwei (transformierte) Systeme“ sollte die EU angesichts eigener Korruptionsprobleme (z.B. „Qatar Gate“) von ihrem insbesondere seitens der Partner im globalen Süden kritisierten hohen Ross der Belehrung herabsteigen (vgl. WION, 12.12. 2022) und sich nach Jahrhunderten der weltweiten kolonialen und ökonomischen Dominanz an eine neue Ära gleichberechtigter Partnerschaften ohne Doppelstandards und zum fairen wechselseitigen Nutzen gewöhnen.

Nur so ist der Übergang vom „Juniorpartner“ in einer monopolaren Weltordnung zum gleichberechtigten „Mitspieler Europa“ in einer multipolaren Weltordnung zu bewältigen.

 

1 Rede beim „Chicago Council on Global Affairs“: https://youtu.be/vln_ApfoFgw

2 In einem Telefonat mit dem US-Botschafter in der Ukraine besprach die stellvertretende US-Außenministerin der Regierung Obama, Victoria Nuland, die gewünschte Zusammenstellung der neu einzusetzenden und ledig-lich pro forma zu wählenden Regierung in Kiew (vgl. BBC, 07.02.2014).

 

Gesamte Studie hier zum Download:

europa am kipppunkt – Joachim Kuhs, AfD / Alternative für Deutschland

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