Liebe Mitbürger,

das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter gehört zu den bekanntesten und beliebtesten Texten des Neuen Testaments: Ein Mann wird auf einer Reise von Räubern überfallen und schwer verletzt liegen gelassen. Ein Priester und ein Levit gehen achtlos an ihm vorbei; erst ein Samariter pflegt ihn und nimmt ihn mit in die nächste Herberge, wo er auch die Kosten für seinen Aufenthalt übernimmt. (Lukasevangelium 10,29-37)

Diesem Gleichnis geht die Frage eines Pharisäers an Jesus voran: Wer ist mein Nächster? Eine berechtigte Frage. Denn die Pflicht zur Nächstenliebe steht schon in Levitikus 19,18. Umstritten war aber, wer denn mit der „Nächste“ gemeint ist. Nur die Angehörigen des eigenen Volkes? Oder gehören auch Halbbürger oder Fremde mit Wohnrecht dazu? Wer also ist mein Nächster?

Jesus stellt in seinem Gleichnis einen Samariter vor. Die Samariter waren zum Teil aus dem Volk Israel hervorgegangen, hatten sich aber religiös und gesellschaftlich abgespalten. Die beiden Gruppen pflegten so gut wie keinen Umgang miteinander und betrachteten den jeweils anderen als Abtrünnigen.

Wir sehen dieses Gleichnis häufig als moralischen Appell, als Aufforderung, nicht wie der Priester und Levit zu handeln, sondern in die Rolle des Samariters zu schlüpfen und Notleidenden zu helfen. Das ist gewiss richtig und wichtig, doch Jesu Gleichnisse sind nie ausschließlich moralisch gemeint. In erster Linie handeln sie vielmehr immer von Gott und dem mit Jesu Sendung verbundenen Anbruch des Gottesreiches.

Dies wird auch deutlich in der Antwort Jesu auf die zentrale Frage „Wer ist mein Nächster?“ Jesus gibt darauf die Antwort: „Der die Barmherzigkeit an ihm getan hat.“ Wir müssen also die Perspektive umkehren und uns selbst in der Rolle des Überfallenen und Hilfsbedürftigen sehen. Wir sind diejenigen, die Hilfe und Rettung brauchen!

Wenn der verletzte Mann als Bild für uns selbst steht, dann besagt das Gleichnis: Opfer und Gesetz – repräsentiert durch Priester und Levit – können uns nicht helfen. Hilfe erhalten wir vom verachteten, als Verbrecher gekreuzigten Mann aus Nazareth, für den der verachtete Samariter als Bild steht. Jesus ist unser Nächster, unser Retter, unser Heiland; er ist derjenige, der Barmherzigkeit an uns tut.

Dies anzuerkennen und Jesus als meinen persönlichen Retter und Messias anzunehmen, ist der erste, der entscheidende Schritt! In einem zweiten Schritt müssen wir uns Jesus als Vorbild nehmen und die Liebe, die wir erfahren haben, an andere weitergeben.

Schon in apostolischer Zeit war die Fürsorge für Schwache ein Charakteristikum der christlichen Gemeinden, das ihnen auch von der heidnischen Umwelt Respekt abnötigte. Und das Christentum hat im Laufe seiner Geschichte viele wunderbare Beispiele an Nächstenliebe hervorgebracht. Denken wir z.B. an die karitativen Orden, die Franckeschen Stiftungen, die Herrnhuter Brüdergemeinen und viele Einrichtungen mehr. Und denken wir an die unzähligen Beispiele täglicher stiller individueller Nächstenliebe, die Gott allein kennt.

Alle diese Erweise von Nächstenliebe waren und sind freiwillig. Nächstenliebe kann man nicht erzwingen. Und Nächstenliebe braucht Freiheit. Ein allzuständiger Betreuungsstaat, wie es der EU vorschwebt, erstickt die wahre Nächstenliebe, er ist eine Karikatur von Nächstenliebe und er wird das Schicksal des Turms zu Babel erleiden. Und wie ein Familienvater seine Kinder (denn das sind seine Allernächsten!) nicht darben lassen darf, um irgendwo auf der Welt Fernstenliebe zu betreiben, so darf auch der Staat seine Bürger nicht zugunsten einer abstrakten Weltrettung vernachlässigen.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen und Ihren Familien einen gesegneten und frohen Sonntag

Ihr

Joachim Kuhs